Kolumne «Tribüne» – Aussterbende Aktentaschen | Der Landbote

2022-07-29 23:02:13 By : Mr. kevin Q

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Während der Koalitionsverhandlungen zur Regierungsbildung in Deutschland geriet die Umhängetasche des grünen Spitzenpolitikers und heutigen Vizekanzlers Robert Habeck ins Blickfeld der Medien. Das abgewetzte Behältnis, das Habeck lässig um die Schulter gehängt trug, wie einst John Wayne seine Satteltasche, wurde zum Medienstar.

«Wer trägt denn so was?», fragten Magazinmoderatorinnen. Die Stilkritikerin Barbara Vinken dagegen lobte in der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit», Habecks Ledertasche sei «eine gute, gut alt gewordene Haut, nicht kunstvoll künstlich bearbeitet», einfach ein Klassiker aus haltbarem Leder.

Diese Aufmerksamkeit für eine alte Ledertasche zeigt vor allem eines: Mit Papierakten und Vesperdosen gefüllte «Aktentaschen» stehen auf der Liste der aussterbenden Alltagsdinge. Bald wechseln sie auf den Artefakte-Friedhof, wo schon das Wählscheibentelefon, der Karteikasten und der Handquirl für Schlagrahm ruhen. Einige Lateinlehrer und ein paar Rechtsanwälte sind die letzten «Aktentäschler».

«Nur in alemannischen Gegenden feiert das Arztköfferchen ein Nachleben: als treuer Begleiter von Clowns an Fasnacht.»

Verschwunden ist auch das torpedoförmige Arztköfferchen, in dem die grundlegenden Instrumente traditioneller Diagnostik ihren Platz fanden. Nur in alemannischen Gegenden feiert dieses historische Arztköfferchen ein Nachleben: als treuer Begleiter von Clowns an Fasnacht.

Eine unliebsame Erinnerung meiner Jugend ist die Aktentasche eines Postbeamten. Frühmorgens stellte er die Tasche neben seinen Drehstuhl im Schalter: Pünktlich zu seiner Pause postierte der «Postler» ein «Geschlossen»-Schild an die Schalterscheibe, holte aus der Tasche Pausenbrot und Thermoskanne hervor und vesperte – während vor der Glasscheibe die Kundenschlange immer länger wurde.

Grundsätzlich mag man einwenden, für solche Taschen hätten schliesslich immer Tiere sterben müssen: Hornvieh für die genarbte Aktentasche und die Tornister der Infanterie und für die fellbespannten Schulranzen der Schweizer Dorfjugend.

Doch wenn ich mir die marsflugtauglichen Plastikungetüme heutiger Schulkinder anschaue, frage ich mich, was nachhaltiger war: die Ledertaschen oder diese Ungetüme aus Kunststoff? Und all die Plastikumhängetaschen, die nach kurzer Lebensdauer die Müllhalden der Welt befüllen?

Vielleicht erleben Taschen aus Leder, Filz und Tuch und mit ihnen der Sattler- und Täschnerberuf eine Wiedergeburt, wenn wir endlich Abschied nehmen von Massenprodukten, deren Lebenszeit bewusst nur auf kurze Haltbarkeit bemessen ist.

Tobias Engelsing ist Direktor der Konstanzer Museen und «Landbote»-Kolumnist.